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Beitrag vom 14.06.2010
Marianne Breslauer - Unbeobachtete Momente
Marie Heidingsfelder
"Interessiert hat mich nur die Realität, und zwar die unwichtige, die übersehene, von der großen Masse unbeachtete Realität". Die Berlinische Galerie zeigte bis zum 01. November 2010 eine...
...Retrospektive zum Anlass des 100. Geburtstags der Fotografin
Neun goldene Jahre
Als Marianne Breslauer beschließt, Fotografin zu werden, ist sie gerade 16 Jahre alt und besucht die Ausstellung von Frieda Riess. Mitten im Berlin der Zwanziger Jahre profitiert die Tochter eines Architekten vom Air du temps des goldenen Zeitalters zwischen den Weltkriegen: Im wirtschaftlichen Aufschwung brodelt das kulturelle Leben in der Hauptstadt und nachts vergnügt sich die junge Generation in Bars und Nachtclubs.
Die "Neue Frau" dieser Zeit ist nicht nur ein fotografischer Schwerpunkt von Marianne Breslauer, sondern ein Ideal, das sie selbst lebt: Unabhängig, selbstbewusst und frei von materiellen Sorgen steht ihrem Traum nichts im Weg. Nach drei Jahren in der Lehranstalt des Lette-Vereins schließt sie die Ausbildung zur Fotografin 1929 mit einer Arbeit zum Thema Portrait ab. Die ungewöhnliche Begabung der jungen Frau zeigt sich bereits in ihrer Aufnahme von Paul Citroen, die als Meisterwerk des "Neuen Sehens" gilt: Sie bricht mit den Traditionen der "alten" Portraitfotografie und spielt mit der Spannung, die in den starken Kontrasten zwischen Schwärze, Gesicht und Hand entsteht. Ihre Leidenschaft sind allerdings Portraits von Frauen, in denen sie an der Grenze zwischen Modeaufnahme, Zufall und Inszenierung spielt: Sie zeigt Freundinnen beim Sonnenbaden, inszeniert Fotostrecken für Zeitschriften und fotografiert immer wieder Frauen wie Lisa von Cramm oder Ruth von Morgen, die androgyn und freiheitsstrebend dem Typus der neuen Frau entsprechen. Besonders die Faszination der lesbischen Schriftstellerin und Historikerin Annemarie Schwarzenbach fing sie immer wieder ein. Mit ihr reiste sie 1933 auch im Auftrag der Berliner Agentur Academia durch Spanien, um gemeinsam mit Texten und Bildern von den Besonderheiten des Landes zu berichten.
Die Berlinische Galerie zeigt außerdem Reise- und Stadtaufnahmen von Marianne Breslauer, in denen es ihr immer wieder gelingt, die Schönheit unbeobachteter Momente einzufangen. So gelingen ihr stimmungsvolle Aufnahmen in Italien, Spanien, Palästina, Ägypten und immer wieder in Paris, "dem Ziel ihrer Träume". Sie wendet sich bewusst von der Zentralperspektive der alten Ästhetik ab und sucht neue Motive und Kompositionen. Ohne sich besonders mit dem sozialkritischen Hintergrund des "Neuen Sehens" zu befassen, fotografiert sie die "stumme Ereignislosigkeit des Lebens": Menschenleere Orte, verlassene Gebrauchsgegenstände, das Alltagsleben der einfachen Menschen und das freie Leben der Clochards unter den Brücken.
Marianne Breslauer fotografierte nur neun Jahre, immer unterwegs zwischen Berlin, Paris und ausgedehnten Reisen war ihr Leben so frei wie das ihrer Lieblings-Modelle. 1936 zwang die politische Lage sie allerdings endgültig zur Emigration aus Deutschland. Nicht vorrangig, weil sie jüdische Großeltern hatte, sondern weil ihr das Leben unter den Nationalsozialisten unmöglich war. In Amsterdam heiratete sie, gab die Fotografie für den Rest des Lebens auf und widmete sich mit "preußischer Disziplin" ihren neuen Lebensaufgaben im Kunsthandel und der Familie. Marianne Breslauer starb am 7. Januar 2001 in Zürich und hinterließ ein ebenso kleines wie faszinierendes Werk.
Die aktuelle Ausstellung in der Berlin
Die monografische Ausstellung Marianne Breslauers ist eine Übernahme der Fotostiftung Schweiz zum 100. Geburtstag der Künstlerin und die erste umfassende Retrospektive. Gezeigt werden viele bisher unbekannte Originalfotografien sowie Neuabzüge von Originalnegativen aus dem Nachlass der Fotografin.
Gegen den Trend anderer Fotoausstellungen zeigt die Berlinische Galerie keine Flut, sondern nur eine kleine Auswahl von Aufnahmen der Fotografin, die sich thematisch an den großen Abschnitten ihres Werks orientieren: Die Lehrjahre in der Lette-Werkstatt, die Frauenportraits, die Städte und die Reisen. So bleibt Zeit für eingehende Betrachtungen, Details und Reflektionen - Jedes Foto wird ernst genommen. Sehr gelungen ist auch die Ergänzung der Ausstellung mit einem zweiten Teil, der Bilder von zehn weiteren Fotografinnen und Zeitgenossinnen von Marianne Breslauer zeigt. Zum einen zeigen sich in diesem Konzept ästhetische Parallelen und Unterschiede, zum anderen hat man als BesucherIn die Möglichkeit, die Arbeiten von Yva (1900-1942), Steffi Brandl (1899-1959), Elfriede Stegemeyer (19081988), Lucia Moholy (194-1989), Lotte Jacobi (1896-1990), Grete Leistikow (1893-1989), Alice Hirsekorn (1900-1964), Beate Freese (1907-?), Marianne Brandt (1893-1983) und Marta Astfalck-Vietz (1901-1994) kennen zu lernen.
Veranstaltungsort: Berlinische Galerie
Alte Jakobstraße 124-128
10969 Berlin
Die Berlinische Galerie ist außer Dienstag täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet.
Weitere Infos zur Ausstellung finden Sie unter www.berlinischegalerie.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Zum 100. Geburtstag von Annemarie Schwarzenbach
Zum 100. Geburtstag von Erika Mann
Zum 120. Geburtstag von Frieda Riess
Ein ausführliches Portrait zu Marianne Breslauer finden Sie unter www.fembio.de